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AutorenbildStefanie

Ein ganzes halbes Jahr

STOP: Selbstfürsorge | Triggererkennung | Orientierung | Prävention


Den Titel des heutigen Blogs habe ich mir von einem sehr bekannten Buch von Yoyo Moyes ausgeliehen. Wer das Buch kennt, weiß wie sich das Leben der Protagonistin Lou innerhalb eines halben Jahres um 180 Grad verändert. Auch ich blicke nun auf ein ganzes halbes Jahr seit Start in meine Nüchternheit zurück und kann es kaum glauben, was sich seither alles für mich verändert hat. Man hört/liest ja oft, dass man ein komplettes Jahr in Abstinenz erleben „muss“, um alle Jahreszeiten und Ereignisse, die ein Jahr mit sich bringt – also Weihnachten, Silvester, Geburtstage, Urlaub, Firmenfeiern etc. – nüchtern ganz neu für sich zu erleben. Ich habe in meinen ersten sechs Monaten der Abstinenz bereits fast alle Ereignisse erlebt, die üblicherweise in einem ganzen Jahr stattfinden. So kann ich mittlerweile auf das erste nüchterne Weihnachtsfest inklusive diverser Weihnachtsfeiern und Silvester, einige Geburtstagspartys und Kurzurlaube, eine Entscheidungsprüfung meiner Tochter vor Semesterende und die berufliche Veränderung meines Partners zurückblicken. Der Abschied von meinem Opa war auch mit dabei – meinen letzten Brief an ihn findest du hier. Alles Situationen und Ereignisse, die früher entweder feuchtfröhlich begossen oder aber ertränkt, gedämpft und abgestumpft worden wären. Es kam in den letzten zwei Monaten mehr als einmal vor, dass in mir nach besonders anstrengenden, aufreibenden Tagen der Gedanke aufkeimte, mich mit Prosecco zu belohnen bzw. mich damit von meinem Stresspegel runterzubringen. Eins vorweg: Es kam Gott sei Dank nie dazu!


Die letzten Wochen hatte mich der Alltag fest im Griff. Durch das Ableben meines Großvaters sind nun zum Job - der mich momentan sehr fordert -, dem Erziehen einer pubertierenden Tochter – die fordert mich noch mehr als der Job – und zu den üblichen Arbeiten im Haushalt viele Erledigungen für meine Großmutter hinzugekommen. Der Stresslevel war teilweise enorm und das Abschalten fiel mir schwer.


Als sich die Trigger häuften, wurde mir klar, dass ich auf der Hut und vor allem (wieder) achtsamer mir und meinem Wohlbefinden gegenüber sein muss. Auch mein Freund wies mich eines Tages darauf hin, dass es ihm sehr wohl auffiel, dass ich mich (wieder) übernehme und er auf gar keinen Fall wolle, dass ich erneut in dieser Negativspirale lande. Viele meiner neuen Rituale, die ich zeitgleich mit meinem Start in ein nüchternes Leben in meinen Alltag integriert hatte, machte ich nach wie vor und doch wusste ich, dass es noch mehr benötigte. Ich habe viel darüber reflektiert und nachgedacht, was die Ursache ist, dass die Gedanken an Alkohol und auch die Träume davon wieder zunahmen. Auf der Hand lag natürlich der Tod meines Opas und die damit verbundene Trauer. Auch war mir bewusst, dass die vielen Verpflichtungen, die ich mir teilweise selbst aufbürdete, dazu einen großen Teil beitragen. Die rosa Wolke war nun vorübergezogen und der ganz normale Alltag kehrte ein. Hinzukommt, dass meine Nüchternheit mittlerweile für mein Umfeld auch zum normalen Alltag gehört. Man wird plötzlich nicht mehr täglich gelobt für die eigene Stärke und Standhaftigkeit. Nach Treffen mit Freunden und Feiern fragt der Partner nicht mehr, ob es schwierig war, bei Wasser zu bleiben. Was ja auch gut und ein tolles Zeichen ist, wenn der Mensch an deiner Seite von deiner Nüchternheit so sehr überzeugt ist, dass es für diesen schon ganz alltäglich und normal ist. Niemand wünscht sich einen Partner, der ständig in Angst und Sorge ist, dass man rückfällig werden könnte. Gerade dieses Vertrauen und auch Zutrauen, weiterhin abstinent zu bleiben, ist ein ganz besonders wichtiger Grundpfeiler.


Es gab eine Situation, die mich ziemlich aufgerieben hat und in der ich früher sofort Linderung auf dem Boden einer Flasche gesucht hätte. Stattdessen habe ich mir – es war bereits abends – eine Tasse Kaffee gemacht. Mein Freund war etwas perplex, dass ich um diese Uhrzeit noch etwas Koffeinhaltiges trinke. Meine forsche Antwort darauf war, dass ich ja „nichts Anderes saufen darf“ und mich daher mit Kaffee begnügen muss. Das war dann auch der Moment, in dem er mich zur Vorsicht auf mein Wohlergehen hingewiesen hat.



Wie bereits erwähnt, habe ich mich ab diesem Zeitpunkt wieder verstärkt der Abstinenzstabilisierung gewidmet. Das soll jetzt nicht heißen, dass ich das zuvor nicht mehr getan habe, aber sie blieb neben den üblichen Alltagsaufgaben doch etwas auf der Strecke.

Folgende Übung habe ich für mich gefunden, um Cravings die Stirn zu bieten und um mich in Achtsamkeit für meinen weiteren Erfolg zu üben: Durch ein einfaches STOP


S - für Selbstfürsorge
T - für Triggererkennung
O - für Orientierung
P - für Prävention

Selbstfürsorge

Genau diese ist oft der Knackpunkt, da viele das Wohl anderer über das eigene stellen. Bis halt nichts mehr geht und man ausbrennt oder im schlimmsten Fall wieder in Mephistos Fänge flüchtet. Ein gutes Beispiel, das ich mir hier immer wieder bewusst vor Augen führe, ist die Situation bei einem Notfall im Flugzeug. Sobald die Sauerstoffmasken fallen, sollte man diese zuerst sich selbst überziehen, um dann mit genügend Sauerstoffversorgung anderen helfen zu können. Verabsäume ich, mir selbst zu helfen, kann ich anderen nicht mehr helfend zur Seite stehen. Selbstfürsorge kann für jeden anders aussehen, da jeder andere Bedürfnisse hat bzw. wir dazu individuelle Wünsche und Vorstellungen haben. Ich starte meinen Tag mit meinem lieb gewonnenen 5-Minuten-Tagebuch und einer positiven Affirmation für den neuen Tag. Der Montag ist mittlerweile wieder mein Sporttag, durch Corona fiel das leider viel zu lange weg. In diesen zwei Stunden powere ich mich so richtig aus und das Gefühl danach ist unbeschreiblich. Die Trinkerei hat mir auch die Freude an der Bewegung genommen bzw. war ich teilweise einfach nicht mehr in der Lage dazu. Zusätzlich gönne ich mir nun einmal pro Monat eine entspannende Massage – diese Stunde gehört nur mir und meinem Wohlbefinden. Das Geld, das ich früher für Alkohol ausgegeben habe, spare ich nicht, sondern gönne mir regelmäßig etwas Schönes. Ob das nun ein neues Buch, ein neues Outfit oder ein Kosmetiktermin ist – ich investiere das zuvor in Prosecco verprasste Geld nun in einen absolut guten Zweck – nämlich in mich und mein Wohlergehen. Ein weiteres Ritual, das ich nicht mehr missen möchte, ist meine abendliche Yogaroutine. Ich habe festgestellt, dass reines Meditieren leider nichts für mich ist und wollte mir nichts auferlegen, das ich nur halbherzig mache. Das Yoga verbindet für mich beides: Ich betätige mich körperlich, bin dabei absolut konzentriert und fokussiert und genieße danach die zweiminütige Schlussentspannung. Danach ruhe ich in mir selbst und beende so den Tag ganz bei mir, lasse alles los was mir nicht guttut und schöpfe neue Energie und Kraft für den nächsten Tag. Ursprünglich habe ich morgens damit begonnen und dann festgestellt, dass ich meine Yogaeinheit abends bevorzuge. Das muss auch jeder für sich selbst herausfinden und nicht jeder wird in Yoga das finden, was ich darin finde. So wie ich das Meditieren ausprobiert habe und feststellen musste, dass das nichts für mich ist. Vielleicht gehörst du zu jenen, die sich lieber am Boxsack austoben oder lauthals ein paar Lieder trällern, um den Alltagsballast abzuschütteln und den Stress abzubauen. Wichtig ist, etwas zu finden, dass dir guttut und dass deine eigene Selbstfürsorge einen ganz besonderen und fixen Stellenwert bekommt.


Triggererkennung

Mittlerweile weiß ich sehr gut, welche Situationen mich triggern könn(t)en. Diese kann ich entweder vermeiden oder mich ihnen bewusst – aber mit Vorsicht – stellen. Vor einem gesellschaftlichen Ereignis, wo ich im Vorfeld bereits weiß, dass Alkohol anwesend sein wird, bereite ich mich darauf vor. Obwohl ich Gott sei Dank sagen kann, dass ich oft gar nicht mehr darüber nachdenke und das Wasser schon so routiniert ordere wie früher den Prosecco. Meine gefährlichen Triggersituationen sind wie eingangs bereits erwähnt, wenn ich mir zu viel zumute und der inneren Stimme, einen Gang runter zu schalten, kein oder zu wenig Gehör schenke. Es wird vermutlich immer mal wieder Situationen geben, die mich triggern, aber diese sind mittlerweile von sehr kurzer Dauer und ich weiß mit ihnen umzugehen. Den Unterschied zwischen vermeid- und unvermeidbaren Triggern findest du hier. Dort findest du ebenfalls eine Verlinkung zum Thema Cravings und Tipps, wie du diese so kurz wie möglich halten und gut hinter dich bringen kannst.


Orientierung

Nehmen bei mir die Trigger bzw. auch die Cravings wieder zu, so versuche ich, mich neu zu orientieren. Ich frage mich, welcher Umstand gerade dazu führt, dass sich Mephisto wieder vermehrt in meine Gedanken einschleicht. Meist ist es Stress und Anspannung bei mir, die dazu führen, dass ich die Orientierung etwas verliere. Und somit mein vorrangiges Ziel – nämlich mein neues nüchternes Leben in vollen Zügen zu genießen – auch aus den Augen verliere. Sobald mir das bewusst wird, rücke ich den Fokus wieder zurecht. Ein Spruch, der mir in diesem Zusammenhang auch sehr gut gefällt, ist folgender: "Du kannst nicht eine Tür schließen und sofort die nächste öffnen. Vielleicht solltest du erst einmal im Flur verweilen, um dich neu zu orientieren". Wenn du dir dafür ausreichend Zeit schenkst, wird sich dir zeigen, welche Türen noch zu schließen sind und welche du künftig für dich öffnen möchtest. Ist es deine Arbeit, die dich schon jahrelang auslaugt und nur noch ein qualvolles Muss ist? Dann könnte eine Neuorientierung in dieser Richtung der Weg sein, den du einschlagen solltest. Tut dir deine Beziehung nicht gut und herrschen ständig Streit und gegenseitige Vorwürfe? Dann ist vermutlich ein Ende mit Schrecken die bessere und gesündere Wahl als ein Schrecken ohne Ende. Opferst du dich ständig für deine Familie, Freunde und Kolleg:innen auf? Dann öffne die Tür zur Selbstfürsorge und finde für dich Dinge, die dir Kraft und Entspannung schenken. Bist du komplett planlos und kommst der Ursache einfach nicht auf den Grund? Dann male dir sämtliche Pfeiler deines Alltags auf – Familie, Freizeit, Beruf, Freunde usw. Notiere dir, was dir daran guttut und was nicht. Vielleicht kannst du so feststellen, in welchen Bereichen du die positiven Aspekte mehr fördern solltest und welche negativen Aspekte du reduzieren oder gar eliminieren kannst.


Prävention

Um meine Abstinenz weiterhin zu festigen und etwaige Rückfälle vorzubeugen, rufe ich mir regelmäßig in Erinnerung, in welch dunklem Tal ich bis vor einigen Monaten noch war. Ich hole mir bewusst die Scham, meine begleitenden depressiven Verstimmungen und meine körperlichen Auswirkungen, die ich damals täglich spürte, in jede meiner Zellen zurück. Und dann verabschiede ich mich aus diesem dunklen Loch und führe mir vor Augen, was sich alles zum Guten verändert hat bzw. was ich nicht imstande wäre zu tun, würde ich nach wie vor trinken. Heute kann ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit ins Auto setzen. Ich wache fit und erholt auf und verschwende morgens keinen einzigen Gedanken mehr daran, ob ich heute endlich stark genug bin, nichts zu trinken. Wenn ich in den Spiegel blicke, lächelt mir eine gesunde Frau mit einem rosigen Teint entgegen. Meine Freizeit verbringe ich wieder mit Dingen, die ich genieße und auch meine Freunde treffe ich wieder häufiger. Vorbei sind die Tage, an denen ich schon früh nachmittags zu nichts mehr zu gebrauchen war und in meinem Dusel eigentlich nur noch das Heranbrechen der Nacht abgewartet habe. Um dann tags darauf wieder mit Selbstvorwürfen und Selbsthass aufzuwachen und mich erneut in dem teuflischen Hamsterrad zu finden. Zu meiner persönlichen Prävention zählt natürlich auch dieser Blog und ich besuche nach wie vor regelmäßig die Suchtberatung und meinen Psychologen zu Einzelgesprächen. Auch hier gilt, dass jeder für sich die passenden Instrumente entdecken muss, um vorzubeugen. Das kann auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe, das tägliche Anhören von Podcasts oder das Schaffen von Verbindlichkeit sein. Viele Wege führen bekanntlich nach Rom und genauso viele Wege führen in die dauerhafte, glückliche Abstinenz.


Ich wünsche dir mit deinem persönlichen STOP viel Erfolg und ganz egal, ob du bei Tag 1 oder Tag X bist, wir alle sollten jeden Tag gebührend feiern und ehren, an dem wir nüchtern und klar im Kopf sind - ein Hoch auf uns!




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