Von Abschied, Akzeptanz und Abstinenz
Ursprünglich wollte ich bereits letztes Wochenende einen neuen Beitrag schreiben und hatte dafür bereits ein Thema im Kopf. Da das Leben aber oft andere Pläne hat, widme ich diese Zeilen meinem Großvater, der letzten Sonntag von uns gegangen ist und nehme auf diesem Weg Abschied von einem besonderen Menschen.
Lieber Opa,
nach unserem Telefonat am Samstag wusste ich, dass du für dich entschieden hast, dass es Zeit wird, Abschied zu nehmen. Du warst müde von den vielen Krankenhausaufenthalten und wusstest, dass es eher noch beschwerlicher als besser werden wird. Ich habe deine Entscheidung akzeptiert, wenngleich ich doch noch einen kleinen Funken Hoffnung hatte, dass sich dein Kampfgeist – wie schon so viele Male bisher - durchsetzt. Dein Beschluss stand jedoch fest, und so hast du am Tag darauf für immer deine Augen geschlossen und bist friedlich und vor allem schmerzfrei über die letzte Brücke gegangen. Den Zeitpunkt hast du so gewählt, dass wir leider um ein paar Minuten zu spät eingetroffen sind, um in diesem Moment bei dir zu sein. Ich habe einen leisen Verdacht weshalb. Wir durften jedoch noch eine Weile an deiner Seite verweilen und ich bin mir sicher, du hast unsere Anwesenheit, unsere Trauer und unsere Tränen noch gespürt.
In der letzten Woche habe ich viel an dich gedacht und war erstaunt, wie viele längst vergessene Erlebnisse mein Unterbewusstsein an mein bewusstes Denken schickte. Da Mama leider sehr oft und auch länger im Krankenhaus war, waren mein Bruder und ich in unserer Kindheit viel bei euch. Und obwohl du nicht unser leiblicher Großvater warst, hast du dich aufopfernd um uns gekümmert und Oma stets in diesen schwierigen Zeiten unterstützt. Eigentlich hast du es erst möglich gemacht, da nur du mobil warst und uns zur Schule gebracht und von dort wieder abgeholt hast. Es war dir auch nicht zu viel Aufwand, uns zu unterschiedlichen Unterrichtsende-Zeiten abzuholen, denn du bist lieber extra gefahren, als dass einer von uns hätte eine Stunde auf den anderen warten müssen. Da wir natürlich Mama ganz stark vermissten und traurig darüber waren, dass sie nicht bei uns war, hast du uns auch regelmäßig zu ihr ins Krankenhaus gebracht. Deine Großzügigkeit machte es überhaupt erst möglich, da du Oma die finanzielle Sicherheit gegeben hast, nicht mehr arbeiten zu müssen und sie so die Zeit hatte, uns in diesen dunklen Tagen aufzunehmen und sich um uns zu kümmern. Papa stand ja auch noch aktiv im Berufsleben und hatte durch den Schichtdienst keine optimalen Dienstzeiten, um sich rund um die Uhr um zwei Schulkinder zu kümmern. Der ständige Rosenkrieg nach der Scheidung zwischen den beiden machte die Situation keinesfalls leichter. Ich war in dieser Zeit oft sehr niedergeschlagen, fühlte mich einsam und sehnte mich nach einem stinknormalen, sorgenfreien Familienleben und einer unbeschwerten Kindheit. Aus heutiger Sicht erkenne ich, dass du alles in deiner Macht liegende getan hast, um uns diese Zeit so erträglich wie möglich zu machen. Du hast uns mit Süßigkeiten verwöhnt und mit tonnenweise Mikrowellenpopcorn – das war etwas ganz Besonders für uns. Deine abendlichen Apfelspalten, die du immer in Kristallzucker getaucht hast, werde ich auch nie vergessen. Mit einem gesunden Snack vor dem Zubettgehen hatte das eher wenig zu tun.
Und auch Jahre später, als ich schon selbst Mutter war, hast du mir jeden Montag eine Jause an meinem damaligen Arbeitsplatz vorbeigebracht. Du wusstest, dass der Montag mein langer Arbeitstag war, und du hast in diesen drei Jahren keinen einzigen Essensservice ausfallen lassen. Ich habe mir diese Woche exakt dieselbe Jause geholt, und du hast mir bei dieser Brotzeit nochmalig Gesellschaft geleistet.
Vorgestern fiel mir dann plötzlich ein, dass ich es geliebt habe, deine Haare zu kämmen. Du warst mein Kunde, und ich bin mir sicher, du hast damals die Kopfmassagen und mein Geplapper (gute Friseurinnen sind schließlich Profis im Smalltalk) genossen. Deine schneeweißen Haare, die du damals schon hattest, haben mich als Kind fasziniert, und ich bin dankbar, dass diese Erinnerung sich wieder ihren Weg in mein Bewusstsein gebahnt hat. Vielleicht hast du sie mir auch zugeflüstert – wer weiß…
"Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen! (Albert Schweitzer)"
Irgendwann hast du einmal ein Fahrrad aus dem Sperrmüll gerettet und dieses für mich auf Vordermann gebracht. Damals war ich nicht sehr erfreut darüber, da das Rad alles andere als „in“ war und ich mich etwas dafür schämte. Das sehe ich heute natürlich aus einem anderen Blickwinkel und weiß, dass du meiner Mama damit helfen – schließlich mussten wir mit Geld sehr sparsam umgehen - und mir eine Freude auf zwei Rädern machen wolltest. In meiner ersten Wohnung hast du mir mit deinem handwerklichen Geschick, du konntest irgendwie alles, geholfen und dazu beigetragen, dass ich mich in meinem neuem Heim wohlfühle. Mein Wohlergehen lag dir immer am Herzen, und das hast du mir mit so vielen anderen kleinen und großen Dingen, Gesten und auch Worten gezeigt. Du hattest stets auch ein schönes Kompliment für mich auf den Lippen.
Auch ich habe nun etwas auf den Lippen – eine kleine Beichte sozusagen. Du hast mir – ich war da ungefähr 14 Jahre alt – unter vier Augen mal ganz offen und unverblümt gesagt, dass du dir sicher bist, dass Oma ein Alkoholproblem hat. Ich konnte damals mit dieser Information relativ wenig anfangen, sie blieb mir aber bis heute im Gedächtnis und ich habe in den Jahren immer mal wieder an diese Worte gedacht. Und ja, ich kann mich heute noch an die ein oder andere Situation erinnern, in der mir Omas Verhalten eigenartig vorkam oder ich merkte, dass sie einen Zungenschlag hatte. Bei ihrer großen Feier zum 50. Geburtstag tanzte sie sehr lasziv und augenscheinlich gut bedient auf den Tischen, und ich konnte damals nicht differenzieren, ob ich das lustig finden oder mich für sie in Grund und Boden schämen sollte. Aber glaub mir, auch ich hatte so meine Auftritte und peinlichen Momente – dem Alkohol sei Dank. Ich kann nur inständig hoffen, dass meine Tochter später einmal derlei Erinnerungen nicht mit mir in Verbindung bringt. Denn leider fällt der Apfel (in diesem Fall nicht mit Kristallzucker versüßt, sondern bitter) nicht weit vom Stamm, und auch ich habe eine anständige Abhängigkeit entwickelt und im Lauf der Zeit die Kontrolle über meinen Konsum verloren. Jetzt weißt du auch, warum ich bei unseren letzten beiden Treffen plötzlich kein Bier mehr mit dir teilen wollte und auch auf das alkoholfreie verzichtet habe. Ich habe Abschied genommen von diesem falschen Freund und bin heute 100 Tage nüchtern. Darauf bin ich mächtig stolz. Und: Auch wenn das für dich jetzt überraschend war, hoffe ich, du bist trotzdem nach wie vor auch stolz auf mich.
Der Hang zum Alkohol liegt bei uns wohl in den Genen, da schließlich mein leiblicher Großvater Zeit seines Lebens diesem Teufelszeug verfallen war und dadurch seine Beziehung zu seiner einzigen Tochter – also Mama – mit Füßen trat und auch für uns Enkelkinder kein Platz in seinem armseligen Leben war. Nicht einmal in seinen letzten Tagen, als er anscheinend schon schwer krank war, kam der Wille der Wiedergutmachung in ihm auf. Ich muss aber ehrlich gestehen, dass ich daran ohnehin kein Interesse gehabt hätte, schließlich hatte ich durch dich einen liebevollen Großvater an meiner Seite. Der Spruch „Blut ist dicker als Wasser“ hat hier keine Bedeutung. Da wir damals die einzig Hinterbliebenen waren, mussten mein Bruder und ich nach seinem Tod einiges in seiner Wohnung erledigen, und ich kann dir sagen, dass ich mir damals schon dachte, dass ich niemals so enden möchte. Alleine in einem dunklen, kleinen Loch, das mit einem schönen Zuhause so rein gar nichts zu tun hatte, zu sterben und wo der Alkohol zuletzt der einzige Besucher – oder eher Mitbewohner – war, ist eine bedrückende Vorstellung. Bei Oma hat sich, ich weiß bis heute nicht, ob mit Hilfe oder einfach so, der Konsum eingependelt. Ihre zwei Achterl Rotwein trinkt sie zwar immer noch, wenn sie auswärts essen geht, aber diese Gelegenheiten sind mittlerweile selten geworden. Vielleicht ist dir beim Lesen dieser Zeilen auch die Schwester meines Großvaters eingefallen, die ja ebenfalls abhängig war. Von deren Problem weiß ich nur aus Erzählungen. Heute lebt sie trocken, und als Kind habe ich sie zu selten gesehen, um da – unbewusst oder bewusst – etwas mitzubekommen. Oma hat mir davon erzählt und auch mein Papa. Dieser hat sie, ich weiß bis heute nicht warum gerade er, schließlich eines Tages in die Suchtklinik gebracht. Auf der Autofahrt dorthin dürfte sie sich aber noch zum Abschied „die Kante gegeben haben“. Vielleicht finde ich irgendwann den Mut, sie bei passender Gelegenheit darauf anzusprechen, um mehr über ihren Weg in die Abstinenz zu erfahren.
Meine eigene Abstinenz ist ja noch relativ jung, und ich verspreche dir, ich werde weiterhin daran arbeiten und festhalten. Der Abschied von dir und der damit verbundene Stress haben mir dennoch in der letzten Woche zu schaffen gemacht. Der Gedanke, meinen Kummer zu ertränken, meinen erschöpften Geist und Körper zu „entspannen“ und mich für die vielen Erledigungen zu belohnen, keimte doch – wenn auch leise – zweimal in mir auf. Gott sei Dank habe ich mittlerweile gute Werkzeuge und Ventile für mich gefunden, um mich schnell aus diesen alten Mustern zu befreien. Mach dir also keine Sorgen, du weißt, dass der Mann an meiner Seite – mit dem du dir schließlich denselben Vornamen teilst – der Fels in meiner Brandung ist und für mich da ist. So wie ich nun für Oma da sein und auf sie Acht geben werde. Das war immerhin dein letzter Wunsch an mich und den werde ich dir erfüllen. Du hast mehr als genug Sorge für uns alle getragen, diese Aufgabe darfst du nun beruhigt abgeben. So wie wir von deinem irdischen Dasein Abschied nehmen müssen, darfst du Abschied von deiner Verantwortung nehmen, um in Frieden zu ruhen. Ruhen wirst du aber auch immer in meinem Herzen, du hast dort ein warmes Zuhause – direkt neben Mama.
Lieber Opa, es ist schön, dass ich dich kennenlernen und in meinem Leben haben durfte. Ich danke dir für diese Erinnerungen,
deine Stefanie
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