Von Feiern, Fremdbestimmung und Fremdschämen
Es kam nicht nur einmal vor, dass ich bei Feiern – ob private Partys, Hochzeiten (auch meine eigene) oder Firmenfeierlichkeiten – ziemlich abgestürzt bin. Im Vorfeld war die Vorfreude stets sehr groß und auch die Vorsätze, rechtzeitig auf Wasser umzusteigen oder dieses von Anfang an begleitend zu trinken waren stets vorhanden. Oft war aber auch eine gute Portion Nervosität mit von der Partie, vor allem bei beruflichen Veranstaltungen. Alleine am Veranstaltungsort aufzutricksen, wo eventuell schon eine Menschentraube wartet und mich bei meiner Ankunft von Kopf bis Fuß mustert, löst in mir stets Unbehagen aus. Muss ich nun alle persönlich begrüßen oder reicht ein Winken in die Gruppe, um Hallo zu sagen? Wo stelle ich mich dazu, um locker zu werden?
Wie es auf solchen Feiern eben so ist, wird einem dann erst einmal etwas zu trinken angeboten. Und nein, man bestellt dann kein Wasser oder einen heißen Tee, sondern bedient sich vom Tablett mit Prosecco, Bier oder Glühwein.
1. Akt – Auftritt Mephisto
Gleich nach dem ersten Schluck werde ich ruhiger und gelassener. Das gemeinsame Zuprosten verbindet und mein Gewissen ist rein, weil ja alle etwas Alkoholisches in Händen halten. Das erste Getränk beruhigt meine Nerven und ich fange an, mich zu amüsieren. Das geht jedoch noch besser, daher ist das erste Glas schnell leer, und mein Blick sucht die Kellnerin, die mit dem Tablett – bestückt mit dem Versprechen eines lustigen Abends – ihre Runden dreht.
2. Akt – Ich finde kein Ende
Nach drei Gläsern bin ich leicht angetüdelt und fühle mich wohl, unterhalte mich gut und genieße den Abend. Eigentlich der perfekte Moment, um nun – zumindest für die nächste Stunde – vorsichtshalber mal auf Wasser umzusteigen. Das Stadium, das mir gefällt und mir Selbstbewusstsein verleiht, habe ich ja erreicht, und ich bin noch weit davon entfernt, zu lallen, mich zu blamieren oder nicht mehr zu wissen, was ich rede. Wie du dir schon denken kannst, bin ich jedoch fremdbestimmt – Mephisto hat die Fäden in der Hand, ich bin seine Marionette. Schließlich geht doch bestimmt noch ein Glas ohne Kontrollverlust und vielleicht wird die Party dadurch noch unterhaltsamer. Die anderen am Tisch steigen ja auch noch nicht auf Wasser um, sondern schenken sich beherzt nach. Also greife auch ich zur Flasche Weißwein, die so plakativ und verführerisch mitten am Tisch zur freien Entnahme steht und schenke mir nach.
3. Akt – The party goes on
Der Abend und mein Promillegehalt sind fortgeschritten, das Partyvolk steht mittlerweile an der Bar und es wird nun Hochprozentiges in rauen Mengen bestellt und gekippt. Vor allem Averna ist die beliebte Begleitung zwischendurch zum Gin Tonic in unseren Händen. Es wird viel gelacht, teils angebaggert und nicht mehr darauf geachtet, was man so alles frei von der Leber – die im Moment mehr als genug zu tun hat – weg erzählt. Schließlich haben wir uns alle unendlich lieb, ich liege sogar denjenigen in den Armen, mit denen ich in der realen Welt eigentlich so gar nichts anfangen kann.
Gibt es hier irgendwo noch einen freien Barhocker? Das Stehen auf den hohen Hacken ist schon etwas mühsam und der Weg zur Toilette eine echte Herausforderung. Die Stilettos waren doch nicht die beste Idee, auch wenn sie zum kurzen Kleid fantastisch aussehen. Aber im Endeffekt hilft das tollste Outfit nichts mehr, wenn der Blick glasig, die Zunge schwer und der Gang als andere als graziös ist. Darauf lege ich in diesem Stadium keinen großen Wert mehr, ebenso verzichte ich darauf, mein Make-up aufzufrischen – vermutlich würde ich danach schlimmer aussehen als ohnehin schon. Außerdem fällt es nicht großartig auf, ob ich mein Gesicht restauriere oder nicht, da alle Anwesenden – bis auf einige wenige (übersetzt: langweilige) Gäste – genauso bedient sind wie ich.
4. Akt – Heimfahrt
Ein schwarzes Nichts…
5. Akt – Das böse verkaterte Erwachen
Da ich in meinem Bett aufwache, gab es die Heimfahrt wohl. Dunkel kann ich mich erinnern, dass ich wo mitfahren konnte. Ebenso erinnere ich mich schwach daran, dass wir mehrere Personen im Auto waren – wie viele und vor allem wer dabei war, bleibt im Nebel. Ich kann auch nicht sagen, ob ich mich im Auto noch unterhalten oder bereits komatös geschlafen habe. Beim Anblick meiner zerrissenen Strumpfhose kann ich nicht definitiv sagen, ob ein Sturz am Weg vom Auto ins Bett die Schuld daran trägt oder das Ding einfach so kaputt gegangen ist. Sind ja auch relativ leicht zu zerstören, das klappt auch nüchtern ganz gut. Mein Schädel brummt, mein Mund ist trocken und der Geschmack grauenvoll und übel ist mir obendrein. Der Versuch, die gestrigen Geschehnisse, Gespräche und vor allem den Nachhauseweg zu rekonstruieren führt zu noch mehr Kopfschmerzen. Vor allem bereitet es mir Kopfzerbrechen, sicher sagen zu können, dass ich nichts Peinliches angestellt habe oder gar vor jemand anderen hingefallen bin. Mein Handy gibt auch nicht mehr Aufschluss – auch nicht zur Uhrzeit, wann ich denn heimgekommen bin. Aber zumindest finde ich keine unpassenden, peinlichen Nachrichten. Die Scham schlägt dennoch zu, mit voller Wucht. Zu meinem geschundenen Körper schleicht sich nun die After-Party-Depression ein. Meine Selbstvorwürfe und mein schlechtes Gewissen feiern heute sozusagen ihre ganz eigene Party – lautstark in meinem verkaterten Kopf. Die Vorfreude auf diesen Tag hält sich mehr als nur in Grenzen, ihn zu überleben hat vorerst oberste Priorität. Und sollte ich mich später etwas besser fühlen, werde ich mir überlegen, wie ich den gestern Anwesenden das nächste Mal unter die Augen treten kann, ohne im Boden zu versinken. Was, wenn ich auf etwas angesprochen werde, woran ich absolut keine Erinnerung mehr habe? Das Beste, das mir passieren kann, wäre, wenn deren Erinnerungen genauso löchrig sind wie die meinen. Vielleicht schaffe ich im Laufe des Tages einen Anruf bei jemanden, der auch dort war, um da vorsichtig vorzufühlen, wie schlimm mein walk of shame am Montag wohl werden wird. Doch zuerst einmal die noch mit dem Make-up vom Vortag verschmierten Panda-Augen schließen und darauf hoffen, dass mein Schädel nicht explodiert und mein Herz – schwer vor Scham – nicht implodiert.
HEUTE
1. Akt – Mein Auftritt
Natürlich bin ich auch heute teilweise noch etwas nervös bei der Ankunft. Bei der ersten Feier, die ich nüchtern verbringe, bin ich eher etwas angespannt in Hinsicht auf unangenehme Fragen anderer (jedem binde ich die Gründe meiner Abstinenz nicht auf die Nase) und ob ich die Party ohne überhaupt genießen kann oder laufend getriggert und von Cravings geplagt werde. Mein Freund ist auch dabei, und wir haben im Vorfeld vereinbart, dass ich ihm nur ein Zeichen geben muss, wenn es mir zu viel wird und wir treten die Heimreise an. Wir werden im Freien schon von gut gelaunten Kolleg:innen (einige dürften schon ein bisschen getankt haben) empfangen, und die erste Frage, die mir gestellt wird, ist ob ich einen Glühwein möchte, damit mich dieser von innen schön wärmt. Für mich bitte einen Kinderpunsch, der wärmt mich ebenfalls. Erschütterte Gesichter, an denen ich ablesen kann, dass gerade überlegt wird, ob ich das ernst meine oder mir einen Scherz erlaube. Nein, das ist kein Scherz. Ich gönne meinem Körper eine Pause, weil ich mich wegen meiner Bandscheiben in den letzten Wochen von Schmerzmitteln ernährt habe und die bevorstehenden Feiertage ohnehin wieder flüssig genug werden. Da ich diese Notlüge ausreichend geübt habe am Nachmittag, bringe ich sie leicht über meine Lippen und bin so überzeugend, dass mir alle Glauben schenken. Ich höre aber raus, dass meine Entscheidung nur widerwillig akzeptiert wird. Ich bekomme trotzdem meinen Kinderpunsch und stelle fest, dass dieser köstlich schmeckt. Da kann ich ohne schlechtes Gewissen noch einen zweiten oder gar einen dritten trinken und habe trotzdem nicht vor dem Essen bereits einen sitzen.
2. Akt - Die anderen finden kein Ende
An unserem Tisch interessiert es keinen, was ich trinke oder fragt nach, warum ich mich mit Johannisbeer-Saft begnüge. Ich bin auch nicht die Einzige, die "anti" unterwegs ist. Mein Freund sowieso, der zieht das mit mir durch – aus freien Stücken. Lediglich beim Blick auf das Dessert werde ich wieder etwas nervös – es gibt Tiramisu. Ich gebe meinem Freund unbemerkt ein Zeichen, seines zuerst zu kosten und mir dann zu verstehen zu geben, ob es sich um eine alkoholfreie Variante handelt. Nach seinem dezenten „Daumenhoch“ kann ich auch dieses voll und ganz genießen. Beim Gang zur Toilette zu späterer Stunde muss ich mir keine Sorgen machen, ob ich noch gerade gehen kann und mein Anblick im Spiegel ist klar und nicht getrübt. Wenn ich wollte, könnte ich mein Make-up auffrischen, ist aber nicht nötig. Ich führe gute Gespräche, kann auch ohne mit den passenden Leuten blödeln und amüsiere mich. Anders halt, besser. Es macht mir Spaß, die anderen bei ihrem Verfall zu beobachten und zuzusehen, wie sie ein Getränk nach dem anderen in sich hineinschütten als gäbe es kein Morgen. Deren Brummschädel werde ich ganz bestimmt nicht vermissen.
3. Akt – The party goes on
Die Witze werden plumper und auf eine angemessene körperliche Distanz zum Gesprächspartner wird verzichtet. Es ist alles andere als prickelnd, wenn mein Gegenüber eine Fahne hat und mit mir unbewusst auf Tuchfühlung geht, indem seine Nasenspitze fast die meine berührt während unserer Unterhaltung. Ich kann es kaum glauben, aber ich bin meilenwert von einem Craving entfernt und fühle mich gut. Bis auf das Fremdschämen, das sich langsam in mir breit macht. Aber immerhin habe ich morgen keinen Anlass, dass ich mich für mich selbst schämen muss. Selbst, als auf meinem Platz ein verlockender Averna auf mich wartet, nachdem ich vom Rauchen zurückkomme, juckt mich das nicht. Und Averna mochte ich wirklich gerne. Die Gruppe am Tisch hat auf mich gewartet, um gemeinsam damit anzustoßen, und nun starren mich zehn Augenpaare erwartungsvoll an und warten darauf, dass ich mein Glas erhebe. Ich lehne dankend ab und verschenke ihn. Es ist nicht schwierig jemanden zu finden, der sich darum annimmt. Mein Freund hat die Szene vom Nebentisch aus mitbekommen und eilt mir zur Hilfe. Ich beruhige ihn mit einem Lächeln und er weiß, es geht mir gut. Kein Grund, abrupt die Flucht zu ergreifen und heimzufahren. Natürlich werde ich von jemand am Tisch gefragt, warum ich abgelehnt habe – schließlich kennt man mich ja anders – und ich antworte kurz und knapp: Ich mache eine Pause. Aha, wie lange soll diese Pause denn nun dauern? Tja, solange ich Lust dazu habe. Ich nehme einen Schluck von meinem Bitter Lemon und der Rest der Gruppe trinkt den Averna auf ex. Irgendwann wird es dann doch mühsam für mich. Jedoch nicht, weil ich ein Verlangen habe, sondern weil ich müde werde und mit den Unterhaltungen mittlerweile wirklich nicht mehr viel anfangen kann. Die Uhr zeigt halb zwei, das reicht doch vollkommen. Ich möchte morgen nicht nur keinen Kater haben, sondern auch ausgeschlafen sein. Wir verabschieden uns von jenen, die es noch mitbekommen und überlassen sie ihrem Schicksal. Beim Gehen bin ich mehr als stolz auf mich, denn ich weiß, wie es den meisten morgen beim Aufwachen gehen wird.
"Nüchtern betrachtet, ist es nüchtern um so vieles besser!"
4. Akt – Heimfahrt
Ich könnte selbst noch fahren, wenn ich wollte, aber mein Freund sitzt am Steuer. Er ist ja ebenfalls stocknüchtern. Am Rücksitz sitzt ein Kollege, der in der Nähe wohnt und sich über den kostenlosen Taxidienst freut und auch noch einen relativ nüchternen Eindruck macht. Ich unterhalte mich mit ihm über dieses und jenes und werde morgen noch wissen, worüber wir gequatscht haben. Wie toll ist das denn! Zuhause angekommen freue ich mich auf mein Bett, den erholsamen Schlaf und auf den morgigen Tag. Ich schließe meine Augen, nichts dreht sich und ich habe mir davor sogar noch meine Zähne geputzt. Mein Mund schmeckt herrlich nach Minze.
5. Akt – I´m feeling good
Ich wache erholt und nicht allzu spät auf. Kein Blackout, kein schlechtes Gewissen, keine Panik und keine Scham. Mein Kopf schmerzt nicht und beim Gedanken an Kaffee dreht sich mir nicht mein Magen um. Der Tag gehört mir und ich kann diesen verbringen, wie ich möchte. Ich kann ihn genießen und bin zusätzlich in der Lage, auch im Haushalt etwas zu tun – wenn ich Lust dazu habe. Auf mein Handy schaue ich nur, um zu sehen wie spät es ist. Ich schwinge mich aus dem Bett und mache mich auf den Weg in die Küche zur Kaffeemaschine. Guten Morgen, du neuer Tag – mal schauen, was du mir heute Schönes bringen wirst…
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