Von Nüchternheit, Neubeginn und "Nathalie"
Mein Schlaf war tief und fest (natürlich eine Wirkung der ersten Tablette) und was mich am meisten erstaunte war, dass es mir am nächsten Tag in der Früh halbwegs gut ging. Am Tag zuvor hatte ich ja bis zu meinem Termin beim Arzt noch getrunken - nennen wir es doch beim Namen: gesoffen - von einem Kater war jedoch keine Spur. Ich muss ehrlich gestehen, dass meine Erinnerung an diesen ersten nüchternen Tag sehr schwach ist. Bisher kannte ich Blackouts nur nach dem Trinken. Da mich der Arzt am Vortag krank geschrieben hatte, habe ich am Vormittag noch meine Kollegen über meinen Krankenstand informiert und einige wichtige Kundenanliegen bearbeitet (irgendwie habe ich da funktioniert, wie so oft zuvor). Danach habe ich den Tag auf der Couch verbracht, meinem Körper Erholung gegönnt und die Geschehnisse der letzten Zeit reflektiert - soweit mein Zustand das zuließ. Zu mehr wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Tabletten, von denen ich nun täglich drei nehmen musste, haben ihre Wirkung gezeigt.
Damals habe ich absichtlich den Beipackzettel nicht gelesen. Beim Prosecco waren mir schließlich die Risken und Nebenwirkungen bewusst und haben mich ja auch nicht aufgehalten. Ich wusste, ich habe keine andere Wahl und wollte mir keine der darin angeführten Nebenwirkungen herbei fantasieren. Für diesen Beitrag habe ich - du weißt jetzt schon was kommt - wieder Dr. Google konsultiert und war etwas erstaunt was ich da gefunden habe: "Benzos dienen der kurzfristigen Therapie schwerer Angst-, Spannungs- und Erregungszustände und helfen bei Durchschlafstörungen. Die Folge ist ein Gefühl von Sorglosigkeit und innerhalb kürzester Zeit nach Einnahme zusätzlich ein Gefühl, als wäre man in Watte gepackt (an dieser Stelle muss ich schmunzeln, da das genau meine Worte im letzten Beitrag waren). Ist eine hoch dosierte Einnahme nötig, darf dies ausschließlich im Rahmen einer stationären Überwachung erfolgen. Das Medikament darf nur kurzzeitig eingenommen werden, weil es sehr schnell abhängig machen kann", (also vom Regen in die Traufe). Erstaunt war ich darüber, dass ich nirgends gelesen habe, dass das Präparat verschrieben wird, um einen Alkoholentzug zu unterstützen. Auf jeden Fall hat es meine körperlichen Symptome und Entzugserscheinungen eingedämmt und meine Gedanken nicht in die tiefsten und dunkelsten Ecken wandern lassen. Ich war benebelt und auch ziemlich neben der Spur. Oft wusste ich nicht mehr, was ich zwei Minuten zuvor gesagt hatte und musste bei meinem Freund nachfragen. Mein Radius erstreckte sich die ersten Tage somit zwischen Bett, Sofa und Terrasse, um rauchen zu gehen. Die Entwöhnung von den Glimmstängeln stand bzw. steht momentan nicht an oberster Stelle meiner To-Do-Liste.
Was jedoch ganz oben stand, war, mir Hilfe und Unterstützung zu suchen. Auch dafür lief die schon mehrmals erwähnte Suchmaschine auf Hochtouren. Mein Hausarzt hat mir eine Therapie nahe gelegt und ebenfalls einen Psychiater für die laufende Überwachung während der Einnahme der Stimmungsaufheller, Schließlich muss ich auch diese irgendwann - wenn ich sie nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nehmen möchte - aus meinem Körper und Geist mit Hilfe eines Profis ausschleichen lassen.
Bingo! Ich wurde ganz in meiner Nähe fündig. Die Webseite und vor allem die Bewertungen der Patient:innen haben mich total abgeholt und ich habe jemanden gefunden, der Psychologe und Psychiater ist. Zwei Fliegen auf einen Streich sozusagen. Einziger Haken an der Sache war, dass das Erstgespräch erst zweieinhalb Monate später stattfinden würde. Bis dahin kommt ja nur die stressigste Zeit in meinem Berufsalltag, Weihnachten und Silvester. Daher ging meine Suche weiter, um diese Zeit nicht ganz auf mich alleine gestellt überbrücken zu müssen. Schließlich wollte ich bei diesem Ersttermin von über zwei Monaten Abstinenz berichten können und nicht über stattgefundene Rückfälle sprechen müssen. Ich fand ein ambulantes Betreuungszentrum für Alkoholrehabilitation und rief sofort an. Die nächste Enttäuschung folgte, da man das Angebot dort nur dann in Anspruch nehmen kann, wenn man zuvor einen stationären Aufenthalt "absolviert" hat oder über gerichtliche Anweisung. Soweit ist es Gott sei Dank bei mir nicht gekommen. Also wählte ich nochmalig die Nummer der Alkoholberatung und dieses Mal hatte ich Glück. Die Dame klang sehr sympathisch und verständnisvoll. Auf unser erstes Treffen musste ich jedoch auch noch zwei Wochen warten. Wo ich aber sofort einen Platz bekam war im OAmN-Programm "Die ersten 30 Tage ohne Alkohol mit Nathalie". Von der Kurzbesucherin wurde ich zum Dauergast (verzeih mir, aber das Wort Gästin find ich furchtbar).
Das Programm und die App halfen und helfen mir ungemein. Ich freute mich täglich auf das neue Video von Nathalie und die damit verbundene Tagesaufgabe. Das Tagebuch - ich gehöre zu jenen, die ab und zu noch sehr gerne mit einem Stift in der Hand schreiben - habe ich mir über eine Firma drucken und binden lassen. Zu diesem Zeitpunkt fiel mir wieder ein, dass mir eine sehr gute Freundin einige Monate zuvor das "6 Minuten Tagebuch" (kann ich nur empfehlen) geschenkt hatte. Mit diesem habe ich damals begonnen, es jedoch binnen kürzester Zeit frustriert beiseite gelegt. Ein Punkt, den ich täglich auszufüllen hatte, war was ich am nächsten Tag besser machen würde. Meine Antwort war stets dieselbe: Ich bleibe nüchtern. Du kannst dir bereits denken, warum mich der Frust überfiel. Aber anstatt den Alkohol wegzupacken, wurde das Buch in irgendeine Schublade außer Sichtweite gesteckt. Mittlerweile ist es mein treuer Begleiter geworden und wird auch eingepackt, wenn ich auswärts nächtige. Wenn ich mir heute die allerersten Einträge anschaue, erkenne ich alleine an meiner Handschrift bei jenen Einträgen, die immer abends zu erledigen waren, dass hier der Prosecco federführend war. Morgens war meine Schrift stets meine Handschrift, schön und gut lesbar.
Meine To-Do-Liste war nun eine Ta-Da-Liste. Ich wurde täglich von Nathalie in ihren Videos begrüßt und in einer tollen und warmherzigen Community aufgenommen. Und ich hatte für mich sehr wichtige Termine vereinbart.
An Tag 3 kam dann aber meine erste Triggersituation:
Mein Freund musste abends kurz weg und ich war das erste Mal ganz alleine daheim. Durch die Möglichkeit zum Homeoffice war er bis dahin immer in meiner Nähe. Als er das Haus verließ kamen sofort die alten Denkmuster in mir hoch. Jetzt hätte ich Zeit und Gelegenheit, unbemerkt in den nächsten Supermarkt zu fahren und mir was zu holen. Wie bisher so oft. Ich war so schockiert und verängstigt darüber, dass ich sofort in der App den Craving-Timer für 20 Minuten eingestellt habe. Die Zeit habe ich überbrückt, indem ich den ersten Beitrag in der Gruppe verfasst und mich dort bemerkbar gemacht und vorgestellt habe. Und gut war es - nach Ablauf der 20 Minuten war der Spuk vorbei und ich war stolz auf mich. Mein Freund hat mir nach seiner Rückkehr gesagt, dass ihn während der Autofahrt ein schlechtes Gewissen eingeholt hatte, weil er mich alleine ließ. Ich habe ihm erklärt, dass ich lernen muss, mit derlei Situationen umzugehen und für mich diese Erfahrung auch sehr wichtig war.
"My goal is not to be better than anyone else, but to be better than I used to be."
Ein weiterer Punkt auf meiner To-Do-Liste war, die Benzos auszuschleichen. Am fünften Tag sagte mir mein Hausarzt, dass ich schon am nächsten Tag auf die Tablette morgens und wenn möglich auch mittags verzichten soll. Abends sollte ich auch nur noch eine halbe einnehmen. Soweit so gut. An diesem Tag hatte mein Freund bis zum späten Nachmittag berufliche Termine bei Kunden vor Ort, was bedeutete, dass ich alleine war. Ab zehn Uhr morgens fingen dann schon die Entzugserscheinungen an: Ich hatte enorme Kopfschmerzen (diese sollten mich noch für eine längere Zeit quälen), mir war übel und mal heiß, mal eiskalt, mein Kreislauf war im Keller, ich zitterte, ich hatte das Gefühl, ich kippe um und innerlich war ich unruhig und rastlos. Also eigentlich war ich körperlich wieder genau dort, wo ich knapp über eine Woche zuvor war. Natürlich wäre es einfach gewesen, doch eine Tablette einzuwerfen, aber dann hätten mir später oder am nächsten Tag diese Symptome erst recht geblüht. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass jede weitere Pille das endgültige Absetzen nur noch schwieriger machen würde. So habe ich mir in regelmäßigen Abständen Traubenzucker zugeführt und mich im Haushalt abgelenkt, um meine an Hysterie grenzenden Gedanken auszublenden. Am frühen Nachmittag habe ich meine Tochter mit wackeligen Beinen vom Schulbus abgeholt und mit ihr einen Spaziergang gemacht. Die frische Luft, die Sonne und das angeregte Gespräch mit ihr haben mir gut getan und etwas Entspannung und Erleichterung sind eingetreten.
Der Tag war jedoch noch nicht zu Ende und abends wartete eine echte Härteprobe auf mich. Der jüngste Sohn meines Freundes hatte Geburtstag (sweet sixteen) und es war schon seit einiger Zeit ein Essen in einem Restaurant mit einigen Familienmitgliedern geplant. Ich wollte da nicht mit Abwesenheit glänzen, wusste aber, dass da einiges auf mich zukam. Abgesehen von meinem körperlichen Zustand, stand mir ein Anstoßen mit Wasser (und in Folge dessen eventuell einige unangenehme Fragen) bevor. In weiser Voraussicht packte ich eine Tablette ein. Eine schlaue Entscheidung, wie sich herausstellte...
Ich wünsche dir bis zum nächsten Beitrag eine gute Zeit und falls du in der Zwischenzeit mal schöne Gedanken tanken möchtest, schau doch einfach am Kraftplatzl vorbei.
PS: Falls dir "OAmN" noch unbekannt ist, findest du in diesem Blogartikel nähere Infos und den Link zur Webseite von Nathalie Stüben.
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