Die Nüchternheit hält, was der Alkohol vermeintlich verspricht
Ich habe in den letzten Monaten zahlreiche Bücher gelesen und eine Menge Podcasts gehört, die sich mit dem Thema Alkohol(abhängigkeit) befassen. Die Versprechungen, die wir uns von dem flüssigen Gift machen sind genauso vielfältig wie die Menschen, die dieses konsumieren, selbst und doch immer wieder ähnlich. Beim Abschalten soll er helfen, nach einem langen, stressigen Tag unterstützen, um runterzukommen, Frust, Ärger, Liebeskummer und Trauer soll er beseitigen oder als Belohnung für die eigenen Mühen und Erfolge dienen. Und bei gesellschaftlichen Anlässen gehört er einfach als treuer Partybegleiter dazu. Dass er jedoch auf Dauer genau das Gegenteil bringt von dem was wir uns erhoffen, verstehen nur jene im vollen Ausmaß, die ihn durchschaut haben und die Nüchternheit erleben.
Unter „Der Körper heilt“ habe ich bereits zu Beginn meiner Abstinenz alle positiven körperlichen Effekte zusammengefasst, die sich bereits nach sehr kurzer Zeit bei mir bemerkbar gemacht haben. Sieben Monate später kann ich behaupten, dass ich immer noch Verbesserungen spüre. Denn die Nüchternheit hält, was der Alkohol uns verspricht. Vorbei sind die frühen schlaflosen Morgenstunden, in denen mich Herzrasen, Übelkeit und das schlechte Gewissen geplagt haben. Meine depressiven Verstimmungen sind komplett verschwunden und mittlerweile habe ich mich auch von den Stimmungsaufhellern verabschiedet, die mir mein Hausarzt damals vorsorglich für zumindest sechs Monate empfohlen und verschrieben hatte. Das Absetzen dieser hat etwas Zeit in Anspruch genommen, da ich die Dosis Stück für Stück reduziert habe – man spricht hierbei vom sogenannten Ausschleichen. Setzt man derlei Medikamente abrupt von heute auf morgen ab, geht das ein bis zwei Tage gut, da in dieser Zeit noch eine Restdosis in den Zellen vorhanden ist. Sobald diese jedoch vollständig abgebaut ist, meldet sich der Körper mit leichten Entzugserscheinungen. Ich kann das bestätigen, da ich – als ich bereits entschieden habe damit aufzuhören – tatsächlich zwei Tage lang die Einnahme vergessen habe und es mir dabei gut ging. „Das ging ja easy.“, dachte ich mir noch. Am dritten Tag stellten sich dann Schwindel, Kopfschmerzen und Kreislaufprobleme ein. In diesem Zustand wollte ich mich nicht mal hinters Steuer setzen, ein Umstand, den ich zuletzt zu meinen Promillezeiten kannte. Also habe ich die Dosis Stück für Stück reduziert und so meinen Körper langsam und behutsam darauf vorbereitet. Meine Stimmung hat sich dadurch nicht verändert, es geht mir nicht schlechter und nicht besser als mit den Tabletten. Das bestätigt mir, dass der Alkohol es war, der neben den ganzen körperlichen „Gebrechen“ auch meine Seele vergiftet hat.
Natürlich ist auch heute nicht alles eitle Wonne, aber ich habe gelernt, wie ich nüchtern mit Stress, Trauer, Ärger und auch Freude umgehe. Ich bin (meist) in meiner Mitte, achte auf mich und vor allem fühle ich mich in meinem Körper so wohl wie schon lange nicht mehr und bin jeden einzelnen Tag dankbar dafür, diesen und mein Gedankengut nicht mehr vergiften zu „müssen“. Der Sober Glow zeigt sich und diesen erkennt auch mein Umfeld. Ich strahle Zufriedenheit, Gelassenheit und das im „Reinen mit mir selbst sein“ aus. Auch optisch sieht man es mir an - ich "glowe" von innen heraus. In Situationen, die mich (über)fordern, wende ich meine Erste-Hilfe-Tools an: ich rolle meine Yogamatte aus, höre mir einen guten Podcast an, nehme ein entspannendes Vollbad oder erinnere mich ganz bewusst daran, dass ein Glas (bei dem es ja nie blieb) alles nur schlimmer und nichts besser machen würde. Die Abstände, in denen ich an Alkohol denke oder ein Craving verspüre, werden immer größer und mir fällt oft erst im Nachhinein auf, dass ich in Gesellschaft anderer Menschen, die neben mir konsumieren, kein einziges Mal darüber nachgedacht habe, selbst etwas trinken zu wollen. Ich hatte seither auch keine einzige Panikattacke mehr und kann nicht in Worte fassen wie schön das Gefühl ist, morgens erholt (ich schlafe seit sieben Monaten wie ein Baby) aufzuwachen und nicht darüber nachdenken zu müssen, ob ich heute trinke oder es endlich schaffen werde, nüchtern zu bleiben. Genau dieses Gefühl, diesen Sober Glow wünsche ich allen, die sich für ein Leben in Nüchternheit entscheiden. Bei dem einen stellen sich die positiven Aspekte vielleicht etwas früher ein als bei dem anderen – aber sie werden kommen und sich spürbar zeigen.
Zusätzlich können wir diesen Sober Glow dazu nutzen, Menschen in unserem Umfeld damit anzustecken. Nicht jeder wird das zulassen oder schon dazu bereit sein, wir gehen jedenfalls mit bestem Beispiel voran. Unter meinen Freund:innen konnte ich bereits einige zum Nachdenken über das eigene Trinkverhalten anregen und ihnen vor Augen führen, dass das typische Rollenbild eines Süchtigen tatsächlich nur ein Bild ist, dass vielleicht genau aus diesem Grund erschaffen wurde: Um für sich selbst eine Rechtfertigung zu haben, warum man selbst kein Problem mit Alkohol hat. Schließlich hat man ja ein Dach über dem Kopf, eine erfolgreiche Karriere, ein intaktes Familienleben und trinkt nicht bereits morgens. Alles paletti also. Ich habe in einigen dieser Gesprächen auch gemerkt, dass einige erleichtert waren, als ich erzählt habe, dass ich zum Schluss meiner „Trinkerkarriere“ schon morgens getrunken habe. Da sie das selbst (noch) nicht tun, ist ja alles noch im grünen Bereich. Obwohl dann dennoch von einigen Seiten das Geständnis gekommen ist, dass das tägliche Glas (oder auch mehr) als fixes Ritual dazu gehört. Natürlich erst abends…versteht sich.
Was soll ich sagen? Außer, dass es auch bei mir so begonnen hat, ich nicht von Anfang an bereits morgens zur Flasche gegriffen habe und es mit der Zeit und schleichend zu einem ausgewachsenen Problem wurde. Vor allem kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, wie schnell es tatsächlich gehen kann, dass man plötzlich nicht nur eine psychische sondern auch eine körperliche Abhängigkeit entwickelt. Letztes Jahr Anfang Oktober habe ich fast zwei Wochen ohne Alkohol und ohne körperliche Entzugserscheinungen geschafft. Lediglich am ersten Tag habe ich mich nicht besonders gut gefühlt. Gut, ich war aber auch verkatert und habe die Wochen davor meinen Körper mehr als gefordert. Ab dem zweiten Tag fühlte ich mich dann eigentlich schon sehr gut, von körperlichen Entzugserscheinungen war nichts zu merken. Dass ich nach zwei Wochen wieder zum Prosecco gegriffen habe, konntest du oben schon zwischen den Zeilen lesen. Auch ich lief dem Irrglauben auf, ein kontrolliertes Trinken möglich zu machen, war aber innerhalb von ein paar Tagen an einem noch dunkleren Tiefpunkt angelangt als zuvor. Und so brauchte ich nicht einmal 30 Tage später ärztliche Unterstützung, um den körperlichen Entzug zu überstehen. Da mich vor Kurzem erst eine gute Freundin ganz überrascht und ungläubig angesehen hat, als ich ihr erläuterte, dass ein kalter Entzug bis zum Tod führen kann, möchte ich diesen Umstand auch hier noch einmal dezidiert erwähnen. Keinesfalls sollte man Experimente mit einem kalten Entzug starten, wenn bereits körperliche Symptome vorhanden sind. Im Zweifelsfall lieber professionelle Unterstützung mit ins Boot holen, das sorgt auch gleich für Verbindlichkeit.
"Strahlst du schon oder kämpfst du noch?"
In den Gesprächen über Alkohol merke ich teilweise, dass ich bei meinem Gegenüber dennoch oft an die (oder besser gesagt dessen) Grenzen stoße und in den Spiegel, den ich vorhalte, zwar ein kurzer Blick riskiert wird, aber eben nur ein kurzer. Es liegt mir fern, zu predigen oder mit erhobenem Finger auf meine Freunde zu zeigen, die meiner Meinung nach problematisch konsumieren und denen ich so gerne die Augen öffnen möchte. Die Erkenntnis bzw. der Wunsch, Mephisto den Rücken zu kehren, muss in der Person selbst entstehen. Das hat auch bei mir gedauert und es hätte absolut nichts gebracht, wenn mir von außen die Nüchternheit aufgezwungen worden wäre.
Was ich und jeder von uns jedoch machen kann, ist mit gutem Beispiel voran zu gehen, ein strahlendes Vorbild zu sein, dem Umfeld zu zeigen, dass ein Leben in Nüchternheit so viel Schönes zu bieten hat und darauf zu hoffen, dass manche Menschen sich von unserem Sober Glow anstecken lassen. Lasst uns gemeinsam strahlen - Schritt für Schritt, Tag für Tag!
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